Notwendige Sofortmaßnahmen
zur Verbesserung der Lehr- und Arbeitsbedingungen an den Schulen
Was es wirklich braucht...
Die neoliberalen Bildungsreformen der letzten Jahrzehnte und die Verschiebung von Bildung als öffentliches Gut hin zu einer Humanressource mit kosteneffizienten Bildungsfabriken, zeigen langsam aber deutlich ihr zerstörerisches Potenzial. Entwürfe und Erlässe aus den Büros der Bildungsdirektion, haben mit der Lebens- und Lernwelten der Kinder und Jugendlichen sowie der Arbeitswelt von Bildungsarbeiter:innen nichts mehr zu tun, stattdessen wird das Bildungswesen in Österreich an die Anforderungen eines entstehenden Bildungsmarktes vorbereitet. Entgegen der (Neo-)Liberalisierung der Schulen braucht es - um vor allem auch den Lehrer:innenmangel in Österreich zu stoppen - eine Bildungspolitik, die die An- und Herausforderungen aller Bildungsbeteiligten ernst nimmt. Gegenmaßnahmen gegen einen Lehrer:innenmangel hätten längst schon ergriffen werden können, lange Zeit hat das Bildungsministerium jedoch kaum reagiert. Auch die jetzigen Bemühungen sind nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein, während wir nicht erwarten können, dass sich der Personalmangel in den kommenden Jahren bessern wird. 30 % der Vollzeitäquivalente von heute sind von Lehrkräften besetzt, die 55 Jahre oder älter sind und damit im kommenden Jahrzehnt in den Ruhestand wechseln. Eine Videokampagne für Quereinsteiger:innen und ein Brief an Maturat:innen sind dafür sicher keine Lösung. Wir kämpfen daher für wirksame Sofortmaßnahmen, um den Beruf der Lehrer:in wieder attraktiver zu machen und fordern faire Lehr- und Arbeitsbedingungen, um die aktiven Pädagog:innen im Dienst zu halten:
#1 Zumutbare Arbeitsbedingungen!
Eine Studie der ARGE Burnout (2019) zeigt, dass Lehrer:innen es lieben zu unterrichten, jede:r siebte:r Lehrer:in zeigt jedoch wegen anhaltend hoher Belastungen Symptome einer schweren Depression. Dabei stieg diese Burnoutgefährdung in den letzten 10 Jahren um 4%. Besonders betroffen sind Männer, ältere Lehrer:innen in Städten und den Mittelschulen. Laut TALIS-Studie (2018) arbeiten Lehrer:innen 46 Stunden pro Woche. 2021/22 leisteten 123.152 Lehrer:innen 6,1 Millionen* bezahlte Überstunden. Die unbezahlten Kustodiate und Supplierstunden sind dabei nicht mitgezählt. Ein Drittel aller Lehrer:innen arbeitet Teilzeit, auch an der Schule ist Teilzeitarbeit weiblich.
Schule erscheint aus dieser Perspektive als toxischer Ort für Lehrer:innen. Um die Profession des Lehrberufes attraktiver zu gestalten, braucht es zumutbare Arbeitsbedingungen: Die Arbeitszeit muss gesenkt werden, die Klassen kleiner, es braucht Unterstützungssystem für Lehrkräfte, wie Teamcoaching und Supervision. Gerade die CoViD-19-Pandemie zeigte, dass es auch einen besseren Gesundheitsschutz braucht. Gerade in Zeiten des Lehrer:innenmangels ist jeder Krankenstand schwer zu kompensieren. Zur Burnout-Prävention braucht es in den Schulen Ruheorte, wo Stress abgebaut werden kann (Der Aufenthaltsort einer Lehrer:in ist üblicherweise das Lehrer:innenzimmer, ein Großraumbüro wo sich zu den Pausen Lehrer:innen auf einem halben Quadratmeter eigener Arbeitsfläche ausruhen können, bevor es vom Trubel im Großraumbüro in den Trubel der Klasse geht.)
*05 Jänner 2023: Lehrer machten 2021/22 deutlich mehr Überstunden / ORF.at
#2 Einsatz von multiprofessionellen Teams in allen Schulen!
Die Bewältigung multipler Krisen (Klima, Krieg, Pandemie, Teuerungen, ...) und ein achtsamer Umgang mit Leistungsdruck, Informationsflut und Digitalisierung sind sowohl für Schüler:innen als auch für Pädagog:innen eine große Herausforderung. Um diese alltäglichen Belastungen abzufedern und nachhaltig zu bekämpfen, braucht es dringend multiprofessionelle Teams aus Pädagog:innen, Sozialarbeiter:innen, Psychotherapeut:innen und Psychagog:innen, Ergotherapeut:innen und Schulärzt:innen, Inklusionspädagog:innen und -assistent:innen sowie Freizeitpädagog:innen und Betreuungspersonal an allen Schulen.
Auch Freizeitpädagog:innen kämpfen mit schlechten Arbeitsbedingungen (z.B. hoher Betreuungsschlüssel, hohe Anzahl an Präsenzstunden, Entlohnung, ...) und chronische Unterbesetzung. Diese führen inzwischen zu eklatanten Anhäufung von Krankenständen, die Lehrer:innen kostengünstig supplieren müssen, um die Betreuung aufrecht zu erhalten.
#3 Ein transparentes Lohnsystem und gerechte Bezahlung!
Die Maßnahme Quereinsteigende anzuwerben halten wir unter den Bedingungen einer angemessenen und transparenten Anrechnungspraxis und Entlohnung für sehr sinnvoll. Ohne finanzielle Anreize für den Lehrberuf wird das Werben um Quereinsteigende jedoch nicht sehr wirkungsvoll sein. Lehrer:innen verdienen laut NBB 2021/22* - je nach Schulstufe und Schulart - in etwa 76% bis 95% von vergleichbar ausgebildeten Akademiker:innen. Warum sollte eine Physikerin einen Beruf in der Schule beginnen, wenn sie auf ein Fünftel ihres Gehalt verzichten müsste? Die Angleichung der Gehälter aller Lehrer:innen mindestens an das statistische Mittel von Akademiker:innengehälter ist daher eine Grundvoraussetzung für die Attraktivierung des Lehrberufes. Das Ziel höherer Löhne ist es auch eine Arbeitszeitverkürzung zu ermöglichen. Darüberhinaus braucht es dringend nachvollziehbare Gehaltsmodelle für Pädagog:innen, die eine angemessene Entlohnung der Arbeitsbelastung und -leistung widerspiegeln, die die professionelle Ausbildung und Spezialisierungen abbilden, Berufsjahre und Vordienstzeiten fair anerkennen sowie attraktive Arbeitszeitmodelle. Das neue Dienstrecht hat wesentliche Verschlechterung verankert, die dringend behoben werden müssen: Die Abgeltung von Kustodiaten und Klassenführung durch Abschlagsstunden, die monetäre Abgeltung aller Mehrdienstleistungen (Supplierungen, Prüfungstätigkeiten, ...) ab der 1. Einheit, eine geringere Einstiegsverpflichtung und eine Überarbeitung der Induktionsphase sind nur einige Forderungen, die sofort umgesetzt werden müssen.
*Nationaler Bildungsbericht 2021/22, S. 206, Abb. B1.4.c: NBB
#4 Auslagerung administrativer Tätigkeiten in den Schulen!
Die bürokratischen Tätigkeiten (wie Anträge, Abrechnungen, Dokumentation, Freigaben, Anfragen, ...) und die IT-Administration (Digitaler Unterricht, User-Verwaltung, Wision, Kommunikationsplattformen, ...) haben ein nicht mehr zu bewältigendes Ausmaß angenommen, welches Zeit und Energie für die eigentliche pädagogische Tätigkeit regelrecht auffrisst. Arbeitsmittel und -plätze werden dafür kaum zur Verfügung gestellt, so das nur durch den privaten Einsatz und die private Finanzierung von Geräten und Software, die Anforderungen überhaupt erfüllt werden können. Es braucht administrative Entlastung durch Auslagerung nicht-pädagogischer Arbeiten an Verwaltungspersonal und eine adäquate technische und räumliche Ausstattung zur Bewältigung der umfangreichen Aufgaben.
#5 Mehr Verwaltungspersonal in den Bildungsdirektionen!
Für viele unsichtbar stehen hinter den Lehrer:innen eine ganze Menge wichtiger Menschen in der Verwaltung in den Bildungsdirektionen. Mit dem Umbau der Bildungsdirektionen wurde der Verwaltungsapparat jedoch verschlankt und damit einhergehend die Arbeitsbedingungen für das Personal verschlechtert. Resultat: ausgebildete Lehrer*innen warten auf eine Anstellung, neu eingestellte Lehrer*innen auf ihre Verträge, Mehrdienstleistungen jeglicher Art aus vergangenen Monaten werden nicht ausbezahlt, Anfragen und Hilferufe nicht gehört, frustrierte und überarbeitete Mitarbeiter:innen sowie Dauerkrankenständen. Wir können unsere Arbeit nicht ordentlich machen, wenn sie unterbesetzt sind.
#6 Mehr Pädagogik und keine Bullshit*-Arbeit!
Das Bildungsministerium verspricht: "Mit der IKM+ profitieren Schüler:innen noch im selben Schuljahr von ihrer Testteilnahme, erhalten direktes Feedback zu ihrem Lernstand sowie darauf aufbauende Förderung." Doch welche Schlussfolgerungen werden aus den Testergebnissen gezogen? Die gesamte Datengenerierung läuft ins Leere, wenn die Ergebnisse nicht evaluiert und in Reformen umgesetzt werden. Bislang wurden weder personelle, noch monetäre, oder räumliche Ressourcen für eine anschließende Förderung gestellt. Wie die IKM+ dienen auch andere Testungen (MIKA-D, Alex-Lesetest, Hernalser Lesetest, Wiener Lesetest, Talentecheck, ...) ausschließlich der Feststellung von Mängeln. Mängel, die allein einem selektiven und unterfinanzierten Bildungssystem zuzuschreiben sind.
Lehrer:innen bilden Schüler:innen und es ist unsere Aufgabe Schüler:innen in ihren Stärken zu fördern und fordern und sie fit für das Leben in unserer Gesellschaft zu machen. Parteipolitisch motivierte, rassistisch-segregierende Testungen (MIKA-D) und deren segregierende Konsequenz (Deutschförderklassen) gehören nicht zu unseren Aufgaben. Die neuen Lehrpläne, die den Handlungs- und Bildungsspielraum für Schüler:innen und Lehrer:innen einengen und Unterrichten zum scripted teaching werden lassen, lehnen wir ab. Um auf die Individualität jede:r Schüler:in eingehen zu können, brauchen wir mehr Beziehungsarbeit statt Evaluierungs- und Testungsinstrumente. Statt für Disziplin im Großraumklassenzimmer durchzusetzen, braucht es ein Format für kleine Lerngruppen, in denen wir Schüler:innen in ihrer Entwicklung begleiten können.
* Eine Bullshit Arbeit "ist eine Form der bezahlten Beschäftigung, die so vollständig sinnlos, unnötig oder schädlich ist, dass sogar die Beschäftigten selbst die Existenz der Beschäftigung nicht rechtfertigen können, auch wenn die Beschäftigten sich durch ihre Arbeitsbedingungen gezwungen fühlen, dies nicht zuzugeben." David Graeber: Bullshit jobs. 1. Hardcover Auflage. Simon & Schuster, New York 2018, S. 9-10
#7 Eine menschenfreundliche, inklusive Schule!
Die Segregation von Menschen in Gymnasien, Mittel- und Sonderschulen ist nicht mehr zeitgemäß. Statt für eine Klassengesellschaft wollen wir Menschen bilden! Statt einerseits Armutslagen und damit einhergehende Probleme an Mittel- und Sonderschulen auszugleichen und Leistungsdrill an Höheren Schulen andererseits zu performen, streben wir für eine gemeinsame inklusive Schule in der die individuellen Bedürfnisse einer:s Schüler:in im Vordergrund stehen. Dazu müssen Schulen vorbereitet und ausreichend ausgestattet werden.
Zudem leisten wir Pädagog:innen tagtäglich wertvolle Beziehungsarbeit und unterstützen die Schüler:innen in ihrer sozialen-emotionalen Entwicklung. Diese Arbeit muss sich endlich im Berufsbild widerspiegeln und Anerkennung finden, in der Berufsausbildung abgebildet werden und in der Stundentafel bzw. im Lehrplan integriert werden. Inklusive Bildungsräume machen das möglich.
#8 Rassismus und Klassismus schaden allen!
Die Gruppe der Schüler:innen wird internationaler. Die Gruppe der Lehrer:innen verändert sich hinsichtlich der sprachlichen Diversität jedoch kaum. Mit zunehmenden Rassismus in der Gesellschaft steigt die Entfremdung zwischen Schüler:innen mit Migrationshintergrund und Lehrer:innen. Wer von der Mehrheitsgesellschaft ständig zu hören bekommt, dass er oder sie nicht "dazu gehört" oder "fehl am Platz ist", wird Lehrer:innen (aus der Mehrheitsgesellschaft) schwerer in positiven Beziehungsverhältnissen begegnen. Zunehmend schwierigere sozio-ökonomische Lebensverhältnissen (z.B. Armutsgefährdung 2005: 12%; 2021: 17%) belasten auch Schüler:innen zunehmend. Prekarisierte Lebensverhältnisse können in der Schule nicht ausgeglichen werden, eine sozialere solidarischere Gesellschaft schafft jedoch die Voraussetzung in den Schulen sich auf die eigene Entwicklung und das Lernen von Neuem zu fokussieren. Der Einsatz gegen exkludierende, isolierende Diskriminierungsverhältnisse ist daher Teil einer besseren Schule, mit humanen Arbeits-, Lehr- und Lernbedingungen. Um die Entfremdung zu minimieren, aber vor allem auch um mehr Menschen zu motivieren und befähigen Lehrer:innen zu werden, muss das österreichische Bildungssystem durchlässiger werden. Zwei Drittel der Studienbeginner:innen kommen aus einem Akademiker:innen-Haushalt, für Studierende aus Arbeiter:innenfamilien und mit Migrationshintergrund ist der Weg zum Studienabschluss ein steiniger. Zudem werden ausländische Lehramtsabschlüsse kaum anerkannt, fertig ausgebildete migrantische Lehrkräfte erhalten kaum eine Chance in Schulen zu unterrichten. Die Zwei-Fächer-Kombination ist bspw. hier viel zu oft ein systemischer Grund für Schlechterstellungen. Die Anerkennung ausländischer Abschlüsse und ein Recht auf Weiterbildung (bspw. Sprachbildung in der Arbeitszeit) und ein diskriminierungsfrei(eres) Bildungssystem würde auch bedeuten, dass es mehr Lehrer:innen geben könnte.
#9 Eine praxistaugliche Lehrer:innenbildung!
Der Personalmangel führte dazu, dass mehrere Tausend Lehramtsstudierende bereits in den Klassenzimmern unterrichten. (Aus-)Bildung und Beruf stellen eine Doppelbelastung dar, oftmals sitzen Lehrer:innen abends erledigt von der Arbeit in Lehrveranstaltungen, um eine ordentliche Anstellung in der Schule zu erreichen. Weder die Hochschulen, noch die Schulen sind für diese Verschränkung ausreichend gerüstet. Anstatt die ordentliche Anstellung von Studierenden in den Schulen zu verbieten, regen wir eine duale Ausbildung an. Eine praxistaugliche Lehrer:innenbildung ermöglicht die praktische und inhaltliche Verschränkung von Bildung und Beruf. Freistellungen an den Schulen und ausreichend Lehrveranstaltungsangebote sind hierfür eine Grundvoraussetzung.
#10 Hilfreiche und kostenlose Fortbildungsangebote!
Lehrer:innen (an Pflichtschulen) sind verpflichtet in einem Ausmaß von 15 Stunden pro Jahr an Fortbildungsveranstaltungen teilzunehmen. Inhaltlich sind die Fortbildungsveranstaltungen nicht eingegrenzt, nicht alle Fortbildungsveranstaltungen sind jedoch für Lehrer:innen kostenlos. Gerade im Umgang mit multiplen Krisen (von der Klimakrise über ökonomische Krisen bis zu Pandemie) in der Schule und den zunehmend schwieriger werdenden gesellschaftlichen Verhältnissen, sind qualitätsvolle, hilfreiche und kostenlose Fortbildungsmaßnahmen für Lehrer:innen wichtig, um die eigene Praxis in diesen Verhältnissen reflektieren und verbessern zu können. Fortbildungsangebote zur Klimagerechtigkeit, Menschenrechtsbildung (bspw. auch im Umgang mit Rassismus in Schulen) und der Gestaltung diskriminierungsarmer Lernumgebungen sollen nicht nur verpflichtend sein, sondern vor allem auch kostenlos.